REGER +
Werke von Max Reger und seinen Schüler:innen
Programm 2: «Kinder, regert’s mir doch nicht so!»
Die Reger-Schüler Schulhoff und Schoeck auf eigenen Pfaden
PROGRAMM
Othmar Schoeck (1886-1957)
Sonate für Violine und Klavier in E-Dur op. 46 (1931) (20’)
I Tranquillo
II Scherzo. Rasch und leicht
III Breit – Kräftig bewegt – breiter
Erwin Schulhoff (1894-1942)
Duo für Violine und Violoncello (1925) (17’)
I Moderato
II Zingaresca
III Andantino
IV Moderato
Max Reger (1873-1916)
Sonate für Violoncello und Klavier in a-moll op. 116 (1910) (26’)
I Allegro moderato
II Presto
III Largo
IV Allegretto con grazia
Stefan Meier, Violine
Matthias Kuhn, Violoncello
Alexander Ruef, Klavier
Zum Programm
Als Max Reger 1905 sein erstes bedeutendes Lehramt an der Königlichen Akademie der Tonkunst in München antrat, umriss er seine Unterrichtspläne so: «Das wäre mein Ideal, an der Akademie in meiner Klasse eine Anzahl von tüchtigen Kerlen zu haben, so eine Art von Hochburg, gegenüber der immer toller sich gebärdenden Reaktion in der Musik, wie es der preussische Staat liebt – u. gegenüber den blinden Fortschrittsfanatikern, Leuten, die nichts können, nichts gelernt haben, sich aber fortschrittswütig gebärden, um Aufsehen zu erregen! Hilf der Himmel unserer Musik, wenn diese «grünen Jungens» einmal die Herrschaft gewinnen sollten!»
Von München und später von Leipzig aus verbreitete sich bald sein Ruf als exzentrischer und begnadeter Lehrer; seine Klassen füllten sich mit Studierenden – und nicht nur «Kerlen»! – aus Mittel- und Osteuropa, Italien und Amerika. Erst der Weltkrieg sollte die internationale Mischung auflösen. Die deutsche Geschichtsschreibung der folgenden Jahrzehnte versuchte Reger nationalistisch als «urdeutschen Fugenmeister» und «Bach des 20. Jahrhunderts» zu verbuchen; seine ausländischen und insbesondere die jüdischen Schüler wurden in den Lexika zeitgenössischer Musikschaffender unterschlagen. Erst Ende des 20. Jahrhunderts gab Susanne Popp, Leiterin des Max-Reger-Instituts Karlsruhe, den Anstoss, sich mit den vergessenen Reger-Adepten neu zu beschäftigen. Nicht wenige von ihnen wurden erfolgreiche Komponisten, Professoren oder Dirigenten.
Das einseitige Klischee vom «Fugenmeister» erklärt nicht die Faszination, die von Regers Person ausgegangen sein muss. Reger war traditionsbewusst, aber auch revolutionär – vor allem aber war er gänzlich undogmatisch und wollte keine Schule begründen, sondern ein solides Handwerkszeug vermitteln, das seine Schüler befähigte, selbständig zu werden. In den Unterrichtsstunden improvisierte er mühelos durch alle Musikstile der Geschichte und Gegenwart, brachte in harmonische Analysen sämtlicher Werke der Literatur seine überraschenden, radikalen Ansichten ein, mahnte die Schüler aber regelmäßig beim Durchsehen der Hausaufgaben: «Kinder, regert’s mir doch nicht so!»
Wie sehr «regern» nun wohl die beiden «Schüler» Schoeck und Schulhoff? Erwin Schulhoff schrieb sich als 14-jähriger 1908 in Regers Kompositionsklasse in Leipzig ein, das Abschlusszeugnis 1909 attestiert ihm Begabung, aber mangelnden Fleiss. Dennoch sollte der Lehrer für ihn ein wichtiger Orientierungspunkt bleiben. Othmar Schoeck, den Reger als sehr begabt erkannte und ihn bat, nach Leipzig zu kommen, verliess Regers Klasse 1908 im Zwist mit dem Lehrer – womöglich, weil er nicht bereit war, eine Kritik Regers an seinen Liedkompositionen anzunehmen. Später führte Schoeck jedoch regelmäßig die Werke Regers auf und soll unter das Notenpapier auf seinem Arbeitstisch stets einen Band mit Reger-Werken gelegt haben.
Neben der vierten Cellosonate Regers hören Sie heute Abend Werke der beiden Schüler, die den Wunsch des ehemaligen Lehrers erfüllen: beide «regern» nicht, komponieren nicht epigonal, sondern gehen selbstbewusst ihrer eigenen Wege. Ein gemeinsames Merkmal ist allen drei Werken, dass sie sich an den Grenzen der herkömmlichen Dur-Moll-Tonalität bewegen und hier nach neuen Idiomen suchen.
Schoecks Violinsonate E-Dur op. 46 (1931)
Othmar Schoeck komponierte seine dritte Violinsonate wenige Jahre nach der Uraufführung seiner Oper Penthesilea, die sehr unter dem Eindruck des atonalen Wozzeck von Alban Berg stand. Die E-Dur-Sonate markiert eine stilistische Wende in Schoecks Schaffen. Seine Biographen verstehen sie im Anschluss an die atonale/expressionistische Phase als Rückbesinnung auf Schoecks spätromantische Vergangenheit. Auch wenn der Gedanke dieses «Rückwärtsgewandten» zu vergangenen Klängen hin beim ersten Höreindruck naheliegen mag, könnte man Schoecks Vorgehen auch als Befreiung von Zwängen (der zeitgenössischen Avantgarde um Schönberg) verstehen. Gleichzeitig führt er seine Suche nach klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der Tonalität sehr subtil fort und gelangt über kontrapunktische Linienführung zu immer wieder überraschenden, reizvollen Harmonien.
Der Grundton «e» erklingt im Kopfsatz der Sonate erst im dritten Takt auf dem unbetonten zweiten Schlag, wie nebenbei, als Unisono von Geige und Klavier. Indem er über weite Strecken die Tonika vermeidet, erhält der Satz eine schwebende, meditative Grundhaltung. Die Titel der Rahmensätze, Tranquillo und Breit, fordern ungewöhnlich langsame Tempi und schaffen so Raum für ein in großer Freiheit quasi improvisierendes, verinnerlichtes Musizieren, bei dem man eingeladen ist, den mühelos sich entwickelnden gesanglichen Linien nachzulauschen. Das mehr chromatisch gehaltene Scherzo führt die leise Dynamik des Kopfsatzes «leggiero» weiter. Auch der vermeintlich strenger geführte Hauptteil des Finales (Kräftig bewegt) bleibt durch ein Dreierzeitmass schwungvoll-leicht und tänzerisch; er verklingt schnell und plötzlich, fast scherzhaft, im piano.
Schulhoffs Duo für Violine und Violoncello (1925)
Für Erwin Schulhoff, der sich 1919 entschied, fortan sein Komponieren vermehrt am Jazz zu orientieren, war Max Reger die einflussreichste Lehrerfigur. Die experimentierfreudige Harmonik, den «ungenierten» Umgang mit dem Vergangenen oder auch die Vermischung von Stilebenen hatte er in Regers Unterricht erleben können. Und immer wenn sich Schulhoff später beim Komponieren stilistischer Unsicherheit bewusst-wurde, half es ihm, sich erneut an Reger zu orientieren, an konstruktiver Disziplin und einem festen und eher schroffen als «romantischen» Ausdruck.
Sein Streichduo entstand im Frühjahr 1925 in Prag. Es wurde dort von Stanislav Novák und Maurits Frank uraufgeführt, mit denen Schulhoff gerade ein Klaviertrio gegründet hatte. Schulhoff widmete das Werk seinem Lehrer vor Reger, Leoš Janáček, der im Sommer zuvor 70 geworden war, «in tiefer Verehrung».
Eine gewisse Bescheidenheit, die gut zur stark reduktionistischen Besetzung passt, vermittelt sich schon in den pentatonischen Motiven der ersten Takte. Geige und Cello, in kurzem Abstand quasi kanonisch einsetzend, agieren vollkommen gleichberechtigt. Bald wird die Pentatonik chromatisch erweitert. Die Ausdruckspalette führt immer wieder zur Anweisung «senza espressione» und setzt so den dezidiert bescheidenen Grundgestus fort. Virtuose Pizzicato-Passagen, auch Fingerpizzicato, Trillervarianten und akrobatische Flageolett-Folgen machen beide Stimmen sehr anspruchsvoll. Im zweiten Satz fügen sich diese Techniken perfekt in eine wild-tänzerische, fröhliche Folkloremusik nach Art der Fahrenden (Zingaresca). Das Andantino bleibt im schlichten Gestus einer fast durchgehenden Achtelbewegung. Der Finalsatz, «moderat» wie der erste, ist laut Tempoangabe etwas langsamer als dieser zu spielen. Im abschließenden Teil («Presto fanatico») wird das Prinzip des Einfachen durch quasi «stumpfe» Wiederholungsfiguren im «martellato» (gehämmert) provokant gesteigert.
Wie in den 1920er Jahren nicht selten, verwendet Schulhoff hier die Idee der Schlichtheit als Vorwand, um musikalisch die Kompositionsweisen seiner Zeit zu erörtern. Er nutzt den «bescheidenen» Rahmen des Duos, um den strengen Satz, den er einst bei Reger studiert hatte, mit Motiven und Techniken folkloristischer Musik zu verbinden, wie er sie in Werken Bartóks und Janáčeks kennenlernen konnte. Der «fanatische» Schluss könnte eine Anspielung auf zeitgenössische Anhänger des Primitivismus sein, etwa die russischen und italienischen Futuristen. So ist das Duo ein kammermusikalisches Virtuosenstück, ebenso anspruchsvoll wie unterhaltsam und Kommentar zum Zeitgeist in Einem.
Regers Cellosonate a-moll op. 116
Zeit seines Lebens rang Max Reger darum, eine Sinfonie zu schreiben – ein Wunsch, der sich abgesehen von der Sinfonietta op. 90 nie erfüllen sollte. Sein Biograph Rainer Cadenbach wertet die zahlreichen viersätzigen Sonaten, die auf diesem Weg entstanden sind, als Studien und «Realisierungen des symphonischen Prinzips in kleiner Besetzung». Regers vierte Cellosonate ist mehr als das, sie ist ein «Herzblutwerk», wie Susanne Popp schreibt, und von tiefem Ernst geprägt. Gewidmet ist sie Regers Leipziger Kollegen, dem berühmten Cellisten und «europäischen Cellistenmacher» Julius Klengel. Ihn hatte Reger 1909 in Berlin mit Beethovens A-Dur-Cellosonate op. 69 erlebt. Regers a-Moll-Sonate korrespondiert vielfach mit diesem Werk, lässt jedoch auch ein Motiv aus dem Tristan-Vorspiel anklingen (in der einleitenden Cello-Kantilene), zitiert aus Bachs Arie Es ist vollbracht (im Kopfsatz) und aus dem Choral Wenn ich einmal soll scheiden (am Schluss des langsamen Satzes im Klavier).
Trotz der zahlreichen Verweise und Ton-Rätsel schrieb Reger an einen Bekannten: «Ich glaube, dass dieses so klare Werk jedem einleuchten wird.» Die evozierte Todesnähe klingt auch musikalisch z.B. in vereinzelten Cellotönen des tiefsten Registers und in leeren Oktaven des Klaviers an. Demgegenüber tauchen die A-Dur-Schlüsse und das E-Dur des Largo die Musik in helles, vielleicht elysisches Licht.
Dorothea Krimm
Das Berner Klaviertrio TRIORARO begann seine Arbeit 2008 mit der Erarbeitung sämtlicher Klaviertrios von Robert Schumann. Eine Serie von Konzerten ist mit der Veröffentlichung eines Live-Mitschnittes aus dem Konservatorium Bern dokumentiert. Diese Aufnahme wurde bereits mehrfach im Rundfunk gesendet und ist bei Claves Records erhältlich. Ein weiterer programmatischer Schwerpunkt waren die Klaviertrios Ludwig van Beethovens. Dessen Tripelkonzert führte TRIORARO 2014/15 mit dem Medizinerorchester Bern und dem Orchestre de l’Université de Fribourg auf. Im Folgenden beschäftigte sich das Trio mit Schlüsselwerken von Claude Debussy und Maurice Ravel (2017) sowie dem Spätwerk Franz Schuberts (2019). Mit dem Hörfilm Brahms – von früh bis spät bietet TRIORARO einen Einblick in die beiden Klaviertrios op. 8 von Johannes Brahms (2021).
2023 widmet sich das Trio ganz dem Schaffen Max Regers als Komponisten und Lehrer. Dies führte u.a. zur grossen Neuentdeckung seiner Kompositionsschülerin Johanna Senfter.